Silvia Jauch

Komplexe

Mutter-Tochter-Gespräche

Über Ostern haben meine Tochter und ich unsere Loungewear hervorgeholt und einfach nur die Zeit miteinander genossen und in den Tag gelebt. Wir schauten unsere Lieblingsfilme, färbten Ostereier (mit wenig Erfolg) und redeten über alles Mögliche. Das Beste daran war, dass wir keine Verpflichtungen hatten, bis auf ein kleines Familienfest. Für viele Eltern hört sich das vielleicht nach Stress an, denn 24 Stunden mit den Kindern zu Hause zu sein, ist nicht immer nur entspannend. Kinder haben, wie auch wir, ihre Launen und an manchen Tagen treiben sie uns Eltern in den Wahnsinn. Aber dann gibt es diese wunderschönen Momente, in denen man mit ihnen einfach nur den Moment geniessen kann.

Komplexe
Silvia Jauch
28.04.23
Image without a name

Seit meine Tochter zu einem sogenannten Tweenager geworden ist, haben sich unsere Freizeit und damit auch unsere Gespräche verändert. Sie hat neue Bedürfnisse entwickelt und geniesst inzwischen die ruhige Zeit zusammen. Da ihr Schulalltag und meine Jobs ganz schön viel fordern, ist es in meinen Augen wichtig, dass wir einfach mal gemütlich in eine Decke gekuschelt unsere Frauenthemen durchgehen und relaxen. 


Ein Thema hat sich in letzter Zeit etwas breit gemacht. Einerseits mag ich es nicht, aber gleichzeitig bin ich unglaublich froh, dass meine Tochter mit mir darüber spricht. Es ist die Welt der Komplexe, in die wohl fast jeder Mensch früher oder später mal reinstolpert, denn trotz der wundervollen Bewegung der Bodypositive-Anhänger, haben wir alle hin und wieder einen zu kritischen Blick auf uns selbst geworfen.

Körperliche Komplexe sind ein nie enden wollendes Problem in unserer Gesellschaft, das viele Menschen betrifft. Manchmal lernen wir erst mit den Jahren uns so anzunehmen, wie wir sind. Leider war mir das damals mit 16 Jahren nicht bewusst. Ich empfand all meine Freundinnen als unglaublich selbstbewusste Wesen, die im Gegensatz zu mir zufrieden mit sich selbst waren und stolz auf ihre Figur. Falsch gedacht – aber das wurde mir erst einige Jahre später bewusst. Wir alle kämpften mit unseren Unsicherheiten, aber versuchten dennoch diese Gefühle zu überspielen.


Komplexe rühren oft von unserem Gefühl der Unzulänglichkeit oder Unsicherheit mit der eigenen körperlichen Erscheinung her. Sie können das Selbstvertrauen, das Selbstwertgefühl und die allgemeine psychische Gesundheit beeinträchtigen und das wiegt schwer. Zudem ist es auch eine zeitfressende Angelegenheit, die mich damals oft wahnsinnig machte. Ich konnte nicht einfach die Klamotten anziehen, in denen ich mich wohl fühlte, sondern sie wurden haargenau geprüft und landeten meistens im Zuge eines Wutausbruchs in einer Ecke. Jetzt mit 40 Jahren erlebe ich diese Geschichte erneut, aber dieses Mal nur als Zuschauerin. Meine Tochter ist der Phase entwachsen, in der Kinder einfach das tun oder machen, was sich gut anfühlt, sondern sie hinterfragt nun oft, wie dies und jenes nach Aussen wirken könnte und das bezieht sich auch auf den Körper, der sich nun einer Art Metamorphose unterzieht.


Gerne würde ich ihr sagen, dass es möglich ist, diese Ängste und Komplexe zu überwinden, um ein glücklicheres Leben zu führen. Aber diese Worte entspringen meinen heutigen Erfahrungswerten und können leider nicht einfach so auf einen Tweenager übertragen werden. Wäre das möglich, dann würde ich gleich noch ein paar Anleitungen zum Vermeiden von Stimmungsschwankungen mitgeben und wie wichtig Pünktlichkeit ist – ihr versteht mich bestimmt :). Aber wie gesagt: Eigene Erfahrungen sind unverzichtbar, im Gegensatz zu elterlichen Ratschlägen. 


Daher habe ich mir überlegt, wie ich meine Tochter in dieser nicht ganz unkomplizierten Phase unterstützen kann, denn ich möchte ihr keine unnützen Tipps erteilen. Also habe ich damit begonnen, ihre Fragen mit meinen Erfahrungen zu beantworten, und zwar indem ich aus meiner Teenager-Zeit erzähle. Es gibt nämlich unzählige Stories von damals, die anscheinend nicht veraltet sind und die viele von uns kennen: die Oberschenkel, welche nie straff genug waren oder der Pickel auf der Stirn, der keine Anstalten machte, endlich zu verschwinden. Eigentlich alles Kleinigkeiten, aber nicht für Tween- oder Teenager. Ich erzähle ihr dann auch davon, was mir geholfen hat, mich so anzunehmen wie ich bin und es macht mich sehr glücklich, wenn sie mir hin und wieder aufmerksam zuhört und etwas davon aufschnappt, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken.

Eine Art Leitfaden, um Komplexe loszuwerden, besteht darin, Selbstakzeptanz zu üben. 

Aber wie «übt» man sowas eigentlich? Zuerst ist es wichtig, sich mit dem Begriff gründlich auseinanderzusetzen. Wer bin ich und was mag ich an mir? Was macht mich einzigartig? Anstatt sich mit Fehlern oder Unvollkommenheiten aufzuhalten, ist es wichtig, sich auf die positiven Aspekte von sich selbst zu konzentrieren. Man kann dies erreichen, indem man positive Selbstgespräche führt oder Affirmationen praktiziert. Eine Möglichkeit besteht darin, sich zum Beispiel bewusst nicht für ein bestimmtes körperliches Merkmal zu kritisieren, sondern stattdessen sofort die Dinge an sich zu beachten, die man mag. Dazu können alle möglichen Eigenschaften wie Intelligenz, wunderschöne Füsse, Sinn für Humor oder kecke Sommersprossen gehören.

 

Eine weitere Möglichkeit besteht darin, sich auf gesunde Gewohnheiten zu konzentrieren. Dies kann regelmässige Bewegung, gesunde Ernährung und Entspannungstechniken wie Meditation und Stressbewältigung umfassen. Tut man sich etwas Gutes, spürt man das auch und somit können wir diese positiven Gefühle für unseren Körper besser verinnerlichen – dies kann zu mehr Selbstvertrauen und Selbstsicherheit führen.

 

Es ist sowieso immer hilfreich, sich mit positiven Einflüssen zu umgeben. Dazu können unterstützende Freunde und Familienmitglieder gehören, die ermutigen und die positiven Eigenschaften bestätigen. Ein wichtiger Aspekt ist aber auch sinnvolle Grenzen zu ziehen. Wenn uns jemand immer wieder kritisiert oder spitzfindige Kommentare fallen lässt, dann ist es ganz wichtig und absolut erlaubt auf Abstand zu gehen. Kritik darf sein, aber nicht solche die uns und unserem Prozess schadet. 

Image without a name

Soziale Medien gehören auch dazu, denn oft führen sie zu Gefühlen der Unzulänglichkeit. Man muss sich immer wieder bewusst machen, dass die meisten Bilder und Videos auf Social Media nicht mehr viel mit der Realität zu tun haben, auch wenn der Nutzer stundenlang von Selbstliebe schwafelt. Ein Hashtag à la #normalizenormalbodies allein bedeutet nicht, dass da nicht einige Filter mit im Spiel sind. Dementsprechend sollte man diesen Content ernst nehmen (oder eben besser nicht).

 

Um dem entgegenzuwirken, kann es hilfreich sein, Konten zu entfolgen, die unrealistische Schönheitsideale oder ein negatives Körperbild fördern. Dazu gehören auch Menschen, die zwar auf Filter verzichten, aber sich dafür täglich mehrere Stunden im Fitnesscenter quälen, fünf Darmreinigungen pro Woche (freiwillig!) mitmachen, sich für unbezahlbare Beträge irgendwelche Coaches nach Hause holen und jede Kalorie zweimal zählen. Klar kann man das alles tun, aber ob das noch viel mit Selbstakzeptanz zu tun hat, ist fraglich.

In einigen Fällen kann professionelle Hilfe erforderlich sein, um Komplexe zu überwinden. Die Therapie kann eine grossartige Ressource für Menschen sein, die mit ihrem Körperbild übermässig stark zu kämpfen haben. Ein Therapeut kann Werkzeuge und Strategien zur Verfügung stellen, um echtes Selbstwertgefühl aufzubauen und negative Glaubenssätze über Bord zu werfen.

 

Ich bin inzwischen aber davon überzeugt, dass es unseren Kindern schon sehr hilft zu erfahren, dass auch wir damit zu kämpfen hatten und nicht mit einem riesigen Selbstbewusstsein geboren wurden. Zudem vertieft es auch bestimmt die Beziehung zueinander, wenn man auch mal seine verletzliche Seite gegenüber seinem Kind preisgibt und ihm damit aufzeigt, dass diese Gefühle zum Prozess der Selbstfindung dazu gehören.

 

Also, ab in die kuschelige Loungewear, einander zuhören und sich daran erinnern, wie es für uns damals war.