Martina Bayer und Silvia Jauch

Narben erzählen immer eine Geschichte

Zwei starke Frauen, die nie aufgegeben haben, sprechen über die Narben, mit denen sie auf ihrem Lebensweg konfrontiert wurden. Manchmal sichtbar, manchmal unsichtbar und doch berührungsempfindlich. Aber was beide gelernt haben, ist, dass jede Narbe eine Geschichte verkörpert. Am Ende entsteht dabei eine Versöhnung mit der Vergangenheit und eine neue Normalität, und es darf auch mal auf den Tisch gepoltert werden, um mehr sich selbst sein zu können.

Narben erzählen immer eine Geschichte
Martina Bayer und Silvia Jauch
14.10.22

Martina Bayer

Narben überm Herzen


Beim Thema Narben scheiden sich die Geister. Die einen kaschieren sie, die anderen feiern sie wie Denkmäler, die an ein Erlebnis erinnern. Dabei hat doch jede Narbe zumindest ihre Entstehungsgeschichte zu erzählen, die Menschen zum Lachen, Weinen oder Nachdenken einlädt. So tiefgründig das Zufügen von Narben auch ist, so oberflächlich werten manche Menschen ihre äusserliche Erscheinung. Vielleicht ist es genau das Sprechen über eine Narbe oder das Erklären, weswegen man sich optisch vom «0815-Neandertaler» unterscheidet, das Menschen dazu veranlasst, ihre Narben zu verstecken. Vielleicht waren die bohrenden Fragen zu unsensibel, oder man war emotional noch nicht so weit, oder vielleicht triggern diese Gespräche unerwartete Gedanken?


Ich gehöre nicht zu den Menschen, die aufgrund von Narben oder anderen körperlichen Antinomien Unterschiede im Umgang machen. Ich nehme sie dennoch wahr, diese kleinen «Disharmonien» und minimalen Nuancen, die sich vom restlichen Gesamtbild abheben. Ob es nun sichtbare oder unsichtbare Narben sind, so manch eine hat tiefe Kerben in die Seele geschlagen. Kein Verband lang genug, um das weitere Ausdehnen der Verletzungen zu verhindern, und kein Medikament stark genug, um die Verarbeitung der täglichen Erinnerung an sein Schicksal zu erleichtern. Einziger Trost oder gar Ausweg ist oft nur, das eigene Auge zur Erblindung zu zwingen, indem man seine Narbe verdeckt, egal ob mit Make-up, Kleidung oder anderen Utensilien. Dann stellt niemand Fragen, die mitleidigen Blicke bleiben aus, und man kann rechenschaftslos und unbemerkt «ganz normal» sein.







So gerne möchte ich oft nachfragen, wenn ich Narben sehe oder spüre, ganz vorsichtig und sensibilisiert-neugierig, aber meistens mache ich dann doch einen Bogen um diese heikle Thematik. 
Martina Bayer

Falls es allerdings dazu kommt, dass die betroffene Person deutliche Signale der Bereitschaft zur Offenheit sendet oder Narben sogar bewusst zeigt, dann bin ich sofort ganz Ohr und voller Vorfreude. Ich finde es wahnsinnig spannend, wenn andere Menschen schildern, wie sie sich nicht vom makellosen Idealbild blenden und sich von dieser künstlich auferlegten Erwartungshaltung erdrücken lassen. Möglicherweise ist da ja doch etwas Wahres dran, wenn behauptet wird, je länger und tiefer die Narbe, desto dicker muss deine Haut werden? 

 

Früher waren Narben Symbole der Stärke und Ehrfurcht, beinahe wie ein KPI (Key Performance Indicator), um den Kampferfolg zu messen. Zum Beispiel die Anzahl der Narben, die Menge an Stichen, wie viele davon durch ein Messer oder durch einen Schuss entstanden sind, wie knapp am Herzen vorbei usw. Solche Kriegswunden trug man mit Stolz, und sie wirkten sogar einschüchternd, denn sie waren ein Zeichen von Durchhaltevermögen und Willenskraft. Anstatt sie zu verstecken, hat man sie erhalten und zur Schau gestellt, aber vor allem ganzheitlich akzeptiert.

Und heute? Heute assoziieren viele Menschen Narben mit Schönheit und Optik, aber kaum einer spricht über das Gesundpflegen, die Versöhnung und die daraus entstehende neue Normalität. Wenn die einzige Antwort der Gesellschaft auf Narben das Wiederherstellen des fiktiven Idealzustands ist, was tun wir damit jenen Menschen an, bei denen Narben nicht «einfach» weggezaubert werden können? 

 

Diverse Berufsgruppen profilieren sich mit der «perfekt beseitigten Narbe» und beschreiben ihre Ergebnisse mit «wie wenn nie etwas gewesen wäre». Aber ist das überhaupt möglich, ohne dabei die Psyche zu behandeln? Selbst wenn ich meine Narben erfolgreich beseitigt hätte, könnte ich ihre Entstehung nicht vergessen. Die Stellen, an denen sich meine Narben zeigen, sind irritiert, unterscheiden sich optisch, sind teils berührungsempfindlich oder gar taub, aber vor allem sind sie ebenso nach innen vernarbt. 

 

Würde ich meine Geschichte über Brustkrebs in einem Satz zusammenfassen, so würde er «cancer is silent but scars tell stories» lauten. Bei der Amputation meiner linken Brust entstand mein erstes Kriegsrelikt.



Diese sichelförmige Narbe über meinem Herzen ist, vom Brustbein bis zur Achselhöhle, ein Erfolg auf ganzer Linie.



Ich pflegte diese Narbe mit viel Liebe und bewunderte ihre Heilung. Zum Wiederaufbau der linken Brust wurde Eigengewebe aus meiner rechten Gesässhälfte verwendet, wodurch eine weitere knapp 25 cm lange, sichtbare Narbe entstand. Diese Geschichte erzähle ich besonders gerne, denn wer kann schon von sich behaupten, dass er seinen «Arsch aufs Herz» verpflanzt bekommen hat?

 

Ob sichtbar oder unsichtbar, meine Narben dürfen bleiben, und ich begrüsse die Narben anderer Menschen mit Neugier und echtem Interesse. Und selbst wenn sie aus Eigenschutz überschminkt oder aus Schamgefühl versteckt werden, so möchte ich irgendwann einer Gesellschaft begegnen, die Narben zum Anlass nimmt, wertschöpfende Gespräche zu führen und aus den Erfahrungen anderer Menschen zu lernen.

Silvia Jauch und Martina Bayer Image without a name

Silvia Jauch

Unsichtbare Narben

 

Die Zeit heilt alle Wunden. Doch was ist mit den Narben, die bleiben? Mit unsichtbaren Narben verhält es sich wahrscheinlich ziemlich ähnlich wie mit den sichtbaren: Beide entstehen durch eine Geschichte, die uns in einen Ausnahmezustand versetzt, und jagen einem einen grossen Schrecken ein. Und es wird uns bewusst, dass man nie wieder die Person sein wird, die man mal war, und unsere Narben erinnern uns täglich daran. Jedoch kommt irgendwann der Moment, in dem wir eine Veränderung an den Tag legen, wie meine geliebte Smokey Barret. Wer das ist? Wenn du ein Bücherwurm bist und auf das Genre Horror/Thriller stehst, dann kennst du die Dame möglicherweise. Sie ist eine fiktive Figur in einer echt gruseligen Geschichte: Stur und mutig und im Gesicht eine riesige Narbe, die sie eine lange Zeit hinter ihren Haaren versteckte. Aber diese Geschichte wäre ja nicht so super spannend, wenn Smokey keinen Wandel durchmachen würde. Keine Sorge, ich spoilere nichts bis auf das eine Detail, dass Smokey die Haare irgendwann nicht mehr offen trug und ihre Narbe mit Stolz betrachtete, während die inneren Narben langsam etwas verblassten.


Bitte stempelt mich jetzt nicht zum typischen Horrorfan ab, auch wenn es tatsächlich etwas zutrifft. Ich versinke gerne in Geschichten, um mich von meiner eigenen etwas entfernen zu können.


Meine Narbe entstand über einen langen Zeitraum hinweg, und oft war ich so sehr mit anderen Dingen beschäftigt, dass mir nicht bewusst war, was in mir vorging. 
Silvia Jauch

Heute weiss ich, dass die erste schwere Verletzung in mir auftrat, als mein damaliges Umfeld mir nicht glaubte und diese Wertung auch nach aussen trug. Ich war eine fitte sportliche Multitasking-Mom mit einem tollen Job und harten Workouts, so sah und kannte man mich. Während meine Krankheit jedoch zuschlug und sich von Woche zu Woche verschlechterte, blieb mein Äusseres so frisch und fit wie eh und je, was zur Folge hatte, dass mir bis auf meine beste Freundin niemand glaubte. Alle unterstellten mir, dass meine Schmerzen durch den Stress verursacht würden und ich dementsprechend auch für deren Präsenz verantwortlich sei. Ich hingegen spürte ganz deutlich, wie in meinem Körper eine Fehlfunktion in Gang gesetzt worden war und mich angriff. Irgendwie ein passendes Gefühl, wenn man bedenkt, dass bei mir einige Zeit später eine Autoimmunerkrankung diagnostiziert wurde, und sie tat das, was ich zu erklären versuche: Sie griff mich von innen an.


Meine Narben entstanden somit nach und nach. Zuerst wurde mir nicht geglaubt, dann verlor ich meinen Job und zu guter Letzt verliess mich auch noch mein Mann. Damals versuchte ich zu begreifen, was in meinem Leben gerade passierte, aber ich konnte es unmöglich erfassen. Es tat zu sehr weh, mitzubekommen, dass das eigene Ansehen bereits im Minusbereich lag.

Heute bin ich diesen schmerzhaften Veränderungen dankbar und bin auch stolz auf meine gefühlsmässigen Narben, denn sie haben mir eine sehr wichtige Lektion erteilt. Ich habe gelernt, wie man sein Umfeld rücksichtsloser beurteilt und daraus sehr gesunde Konsequenzen zieht – das hört sich sehr hart an, aber ich versuche es zu erklären: Zu Beginn meiner Krankheit, als ich unter die Räder kam, weil mir kaum jemand geglaubt hatte, suchte ich oft nach Entschuldigungen für deren Verhalten. Ich redete mir ein, dass es für meinen Chef sehr aufwändig sein musste mit mir als kranker Mitarbeiterin klarzukommen oder mein Mann sich etwas anderes vorgestellt hatte, als wir heirateten etc. Wie sehr ich dabei aber gelitten habe, um all das gefühlsmässig alleine durchzustehen, das schob ich zur Seite. Heute weiss ich, dass das komplett verkehrt war. Man darf nämlich Erwartungen haben! Inzwischen erwarte ich von meinem engsten Umfeld mehr, als bloss physisch da zu sein.



Ich erwarte, dass man meine Gefühle ernst nimmt, und ich verteile keine Entschuldigungen mehr für rücksichtsloses Verhalten, sondern ich haue auf den Tisch und treffe oft eine Entscheidung, die mir guttut und nicht meinem Gegenüber.


Im Gegenzug benehme ich mich aber gegenüber meinen Liebsten so, wie ich es mir von ihnen wünsche. Ich bin fest davon überzeugt, dass innere Narben auch unter anderem entstehen, weil wir nicht für uns selber einstehen. Wir lassen zu, dass über uns geurteilt wird, und müssen dann auch noch die Konsequenzen dafür tragen – das schmerzt lange. All das hat mich wachsen lassen und anscheinend in einer Weise, die einigen Menschen nicht ganz so gut gefällt. Schlussendlich geht es aber darum, dass wir viel öfter beurteilen sollten, was uns guttut und was nicht. Wir dürfen uns schützen und dürfen für uns einstehen. Wir sind deswegen keine bissigen Kratzbürsten, wie man uns so gerne unterstellt, sondern wir machen das, was wir auch mit unseren Liebsten machen: Uns schützen, bevor es zu einer Wunde kommt! Und dabei ist es auch völlig okay, wenn wir uns auf diesem Weg von einigen Weggefährten verabschieden müssen.

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